Kunst und Kultur auf Samsø

Der Natur lauschen

Der Künstler Knud Viktor (1924-2013) wuchs auf Samsø auf. Später wurde er Pionier im Bereich des Field Recording und der Tonkunst auf Basis von Aufnahmen von kleinsten Lauten in der Natur. Aber bereits in seiner Kindheit auf Samsø wurde das Interesse an der Natur geweckt.

„Das Geräusch des Sommers“
Mitte der 1920er zog ein kleiner Junge mit seiner Familie von Kopenhagen nach Samsø. Zunächst nach Kolby und später ins Dorf Pillemark, wo der Junge, Knud Viktor, sowie sein jüngerer Bruder und seine jüngere Schwester in der Storegade aufwuchsen.

Es gibt nicht viele Belege über das Leben des jungen Knud, aber man weiß, dass er 1930 seinen Schulgang in Pillemark begann. Es wird gesagt, dass er sich oft Tagträumereien hingab und „das freie Leben“ anstatt der Schulbank bevorzugte. „Die Jungen wurden vom Moorgebiet Tranemosen mit dem tiefen, klaren Wasser angelockt, wo Hechte und Barsche lebten, und wo in kleinen Buchten ein Boot im hohen Schilf versteckt liegen konnte, während die Libellen darüber im sonnengebadeten Licht schwirrten. […] Die gesamte Atmosphäre wurde vom Summen von unzähligen Insekten abgerundet – dem Geräusch des Sommers“, berichtet Knuds Bruder, Hans Lauritz Christensen, über die zwei Brüder in einem Artikel im Jahrbuch des lokalhistorischen Vereins auf Samsø aus dem Jahr 2016.

Vom Fassadenmaler zum Kunstmaler
Knud Viktors Vater, Victor Christensen, verdiente seinen Lebensunterhalt als Malermeister. Als Knud 1939 sein Mittelschulexamen an der Samsøer Realschule in Tranebjerg bestanden hatte, kam er sofort bei seinem Vater in die Lehre. Während der Lehrzeit begann Knud, einen Zeichenblock und Aquarellfarben mitzunehmen, und in den Mittagspausen übte er das Malen. Sein Bruder, der auch beim Vater in der Lehre gewesen war, erzählte: „Wenn es in seiner Umgebung zu laut wurde, verzog er sich mit seinen Utensilien ans Moor oder einen Waldrand, wo er in Ruhe sitzen konnte und sich mit der Zentralperspektive und Komplementärfarben beschäftigte. Schon damals war er ein Einzelgänger, der am liebsten für sich war.“

Kurz nachdem er seine Lehre zum Fassadenmaler abgeschlossen hatte, zog Knud nach Kopenhagen, um seine Wehrpflicht bei der Leibgarde abzuleisten. Danach ließ er sich von 1951-1958 an der Königlich Dänischen Kunstakademie zum Kunstmaler ausbilden. Während dieser Zeit fertigte Knud Viktor vor allem impressionistisch inspirierte Landschaftsgemälde an, mit der Zeit umfassten seine Werke aber auch die Bereiche Grafik, Fotografie, Film und Ton. Er ist vor allem für seine innovativen Tonwerke bekannt.

Töne und Geräusche
1961 zog Knud Viktor in ein südfranzösisches Berggebiet, um „van Goghs Licht“ zu malen. Dort lebte er mit seiner Frau und seinen Kinder in enger Koexistenz mit der Natur in einem einsam gelegenen Hirtenhaus beim Berg „Lubéron“, und bald zogen die Geräusche der Natur den Maler komplett in den Bann.

In einem Interview mit der Musikzeitschrift „Dansk Musik Tidsskrift“ Jahrgang 68 (1993-1994) erzählt Knud Viktor, wie ihn das Geräusch von Zikaden im südfranzösischen Tal zu einem Wechsel in seinem künstlerischen Wirken inspiriert hat: „Durch die Zikaden wurde mir bewusst, dass Licht und Wärme einen Einfluss auf das Geräusch hatten. Dadurch begann ich mit meiner Tonarbeit, denn es war eine wunderbare Erkenntnis für einen Maler, der wegen des Lichts hierher kam, dass das Licht mit dem Ton zusammenhängt. Der Rhythmus der Zikaden änderte sich mit dem Licht: wenn sich ein kleiner Schatten vor die Sonne schob, begann eine der Zikaden immer, unregelmäßige Töne von sich zu geben, oder der Rhythmus wurde langsamer.“

Autodidaktischer Elektronik-Erfinder
Bald tauschte Knud Viktor Leinwand und Pinsel gegen Hightech-Tonequipment aus, das er eigenhändig aus auf dem Flohmarkt erstandenen Komponenten gebaut hatte. Er hatte durch einen Kurs im französischen Fernsehen etwas über Elektronik gelernt, und seine selbstgebaute Ausrüstung bestand u. a. aus einem Parabolmikrofon aus einem großen Metalltopfdeckel.

Aus seinem Tonstudio im kleinen Haus führten lange Kabel mit Mikrofonen zu den unterschiedlichen Geräuschquellen in der besonderen Natur des Lubéron-Tals, unter anderem zu Vogelnestern und Mauselöchern. Mit seiner Spezialausrüstung verschuf er sich Zugang zu einer Welt, die nur die wenigsten Menschen kennen: die Geräusche eines wilden Kaninchenjungen, das in seiner Höhle schnarcht, Klopfgeräusche von Würmern, die sich durch altes Holz arbeiten, das tiefe Grummeln des Bergs, eine Schnecke, die an einem Salatblatt knabbert, der Nestbau einer Eulenfamilie. 

Die Tonaufnahmen mischte und manipulierte Knud Viktor mit selbstgemachten Effektmaschinen und komponierte die Geräusche zu sogenannten „Geräuschbildern” – Werken, die weder reine dokumentierende Feldaufnahmen oder eigentliche Musik sind, sondern ein Zwischending, wobei sowohl das naturalistisch Erkennbare und das Bearbeitete präsent sind.

Der Ton wurde Knud Viktors wichtigstes Medium, und ab den 1970ern bezeichnete er sich konsequent als „Tonmaler“. In den darauffolgenden Jahrzehnten machte er sich in Frankreich, wo er fast 50 Jahre lang lebte, im Bereich der Tonkunst und des Field Recordings einen Namen, während er in Dänemark nur sporadisch aktiv war.

Ein Erdenbürger von Samsø
Nach Knud Viktors Tod 2013 ist das Interesse an ihm markant gestiegen, unter anderem in Form von Neuauflagen und Neuausgaben seiner Werke, Radioprogramme, Zeitungsartikel und Ausstellungen, und junge Künstler und Forscher aus aller Welt entdeckten ihn als Vorbild. In vielerlei Hinsicht repräsentieren seine Lebensweise und Kunst eine moderne Sicht auf die Natur mit dem Fokus auf dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Diese Sichtweise ist heute aktuell und regt zum Nachdenken an.

Knud Viktor lehnte die Bezeichnung „Natur“ ab, da er der Meinung war, das Wort berge einen Gegensatz zwischen der Natur und uns Menschen. Er nannte sich „Erdenbürger“ und plädierte dafür, dass wir Menschen und die Natur aus demselben Guss sind anstatt von der Natur getrennt oder über ihr erhaben zu sein. Es ist genau diese Sicht auf die Natur, die seine künstlerische Praxis vermittelt, wenn uns die verborgenen Geräusche der Natur offenbart werden und uns beibringen, der Natur zuzuhören – im wörtlichen und übertragenen Sinn.

Somit kann man sagen, dass Knud Viktors Sicht auf die Natur der grünen Agenda vorausging, für die auch Samsø bekannt geworden ist. Und vielleicht entstand seine Fähigkeit, der Natur zuzuhören, auch auf Samsø. Sein Bruder berichtet von Sommerabenden im Garten in Pillemark: „Dann saß die ganze Familie draußen bei Kaffee und Limonade, lauschte der Stille und hielt Ausschau nach Fledermäusen, die auf der Jagd nach Insekten umherflatterten, sowie nach Igeln, die unter den Büschen schnauften, während sich die Dunkelheit von Søren Schuhmachers vier Bienenstöcken hinter der Hecke anschlich.“

Fakta:

  • Knud Viktors Geburtsname war Knud Victor Christensen, er änderte ihn in den 1950ern aber in Knud Viktor ab.
  • Knud Viktors Vater erwarb 1945 ein Haus im Ringvejen i Pillemark für seine Malergesellen, u. a. für Knud Viktor und seinen Bruder. Das Haus wurde nach Tycho Brahes Observatorium „Uranienborg” auf denselben Namen getauft, da die Gesellen Tycho Brahe auf einen der Küchenschränke malten.
  • Knud Viktors künstlerischer Durchbruch geschah 1973 in Frankreich mit der quadrofonischen Lautmalerei, Image V, komponiert mit Geräuschen aus dem Lubéron-Berg. Sie wurde im staatlichen französischen Radio „Radio France Paris“ ausgestrahlt.
  • In den 1970ern begann Knud Viktor, quadrofonische Tonwerke zu erschaffen und erfand den sogenannten „Tetramix“ – einen intuitiven Tonmischer mit vier Tonkanälen, der auch heute noch seinesgleichen sucht.
  • Knud Viktor zog 2010 nach Dänemark zurück und starb 2013 in Kopenhagen.
  • Das Institut für dänische Tonarchäologie hat in den vergangenen Jahren mehrere von Knud Viktors Werken neu aufgelegt oder herausgegeben.
  • Im Sommer 2023 wird Knud Viktors Kunst im Rahmen einer Ausstellung auf Samsø präsentiert, u. a. im Anton-Rosen-Haus.

Zuletzt geändert: 19/04/2024 00:20